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Workcamp 2005 in Plavinas


Bericht über das Internationales Workcamp zur Wiederherstellung des verlorenen jüdischen Friedhofs im Wald bei Plavinas vom 8. – 18. August 2005

8.8.

Nach der Ankunft hat die Gruppe den Friedhof besichtigt und der

Arbeitsbeginn für den 9.8. wurde besprochen.

Der Friedhof liegt etwa 500m von der Umgehungsstrasse von Gostini
kommend links im Wald.
Es gibt erkennbar unterschiedliche Arten von Gräbern: nur Grabsteine,
Grabsteine und Hügel (vom Weg aus erst der Stein und dann der Hügel),
Grabsteine und steinerne Umfassungen, nur steinerne Umfassungen, nur
Grabhügel und nur offene Absenkungen.
Im Sektor 3,1 fällt eine Absenkung auf, die deutlich die übliche Grösse
überschreitet.
Der vorhandene Baumbestand dürfte bis zu 60 Jahren alt sein (einzelne
Baumstümpfe deuten darauf hin, dass auch zu Zeiten der Bewirtschaftung
des Friedhofs dort ein Baumbestand war. Im hinteren Teil des Friedhofes ist
der Bewuchs dschungelartig. Die Zuwegung ist an zwei Stellen sehr
schlecht (Schlammlöcher).
Schon vor Beginn des Workcamps ist bekannt, dass der Friedhof 1835
oder 1845 begonnen wurde. Ein sogenanntes „Erdbuch“ existiert nicht, bzw.
nicht mehr.

 

9.8.
Eine kleine Arbeitsgruppe hat vor Beginn der eigentlichen Arbeiten den
Friedhof im Umfang gekennzeichnet und dann in neun Sektoren eingeteilt.
Die Karte 1984 entspricht den vorgefundenen Verhältnissen, der Friedhof ist
allerdings etwas kleiner als dort angegeben.

Sektor 3.3      Sektor 2.3      Sektor 1.3
Sektor 3.2      Sektor 2.2      Sektor 1.2
Sektor 3.1      Sektor 2.1      Sektor 1.1
W a l d w e g

Die Beschreibung von Fundstellen und Arbeitsorten hält sich an diese grobe
Einteilung. Genauere Bezeichnungen sind noch nicht möglich, das ein
Lageplan des Friedhofs erst noch erarbeitet werden muss.
Zwei Arbeitsgruppen machen sich dran, die Umrandung des Friedhofs
durch einen freien Erdstreifen zu kennzeichnen, damit alles entfernte
Material dahinter (ausserhalb des Friedhofs) gelagert werden kann.
In den verschiedenen Sektoren arbeiten die Gruppen daran, das lose
Material (z.B. herabgefallene Äste) zu entfernen. Eine besondere Gruppe
beginnt mit dem Fällen der kranken Bäume, bzw. der Bäume, die auf
Gräbern stehen.
Im Sektor 1.3 wird ein Grabstein mit deutscher Aufschrift gefunden. Dieser
Grabstein weist einen Einschuss eines grösseren Kalibers auf.
Schon an diesem Tag werden zahlreiche umgefallene Grabsteine gefunden,
die oft nur zum kleinsten Teil aus dem Erdreich ragen. Im Sektor 2.2 fallen
mehrere zerbrochene Grabsteine auf. Im Sektor 3.1 sind nur wenige
Grabsteine zu sehen.
Alle Grabsteine mit Beschriftung (ausgenommen der Liegestein mit deutscher
Inschrift) sind so aufgestellt, dass sie von Westen aus lesbar sind.
Bei Arbeitsende ist die Umrandung fast fertiggestellt und das Gelände in den
vorderen Sektoren fast vollständig geräumt.

10.8.
Heute beginnen die ersten Gruppen damit, die noch erkennbaren Wege bis
zum Erd- oder Sandboden freizulegen. In den hinteren Sektoren werden
die Bäume gefällt, für die eine Motorsäge erforderlich war.
Die Zahl der gefundenen Grabsteine erhöht sich rapide. Im Sektor 1.1
werden in der vorderen rechten Ecke drei Grabsteine übereinander
gefunden. Es sieht so aus, als ob jemand diese Grabsteine entfernen wollte,
es dann aber nicht mehr dazu gekommen ist. Diese Grabsteine werden
entgegen der sonst üblichen Anordnung der Steine nebeneinander aufrecht
an die Böschung gestellt, weil sich der ursprüngliche Standort nicht mehr
ermitteln lässt.
Insgesamt kommt die Vermutung auf, dass der Friedhof irgendwann
geschändet wurde, weil viele kleinere Grabsteine wie umgetreten daliegen
und andere durch rohe Gewalt zerbrochen wurden.
Die Umrandung wird fertig und ausserhalb der Umrandung liegt inzwischen
überall ein ca. 70cm hoher Wall.
Im Sektor 2.2 werden neben einer umgestürzten Grabumfassung Knochen
(Unterkiefer, mehrere Wirbel, eine Rippe und Elle) gefunden. In diesem
Bereich werden die Arbeiten eingestellt. Die Vermutung ist, dass das Grab
daneben geöffnet wurde, um Schmuck oder Goldzähne zu stehlen.
Dabei könnte die Leiche aus dem Grab geholt worden sein (um leichter zu
arbeiten, oder weil die Leiche nicht durch die steinerne Grabumfassung
ging).
Die wesentlichen Wege in den drei vorderen Sektoren werden
wiederherstellt und im Sektor 2.1 werden auch viele Zwischenräume
zwischen einzelnen Gräbern freigemacht, damit die einzelnen Gräber
erkennbar werden. In diesem Sektor stellt sich eine durchgängige Anlage
von Gräbern heraus.
Der Hügel in der Mitte des Friedhofs ergibt nach der Auslichtung eine
wirklich schöne Übersicht über den ganzen Friedhof. Eine grobe Zählung
ergibt einen Bestand von etwa 200 Grabsteinen.

11.8.
Die Arbeiten zur Verdeutlichung der einzelnen Gräber werden in den
Sektoren 1.1, 1.2, 3.1 und 3.2 fortgesetzt. Dabei werden im Sektor 3.1 und
3.2 mehrere angeschrägte Steine auf den Wegen gefunden, die
offensichtlich Aufsätze auf Gräbern gewesen sind und heruntergestossen
wurden. Aus der Lage ergibt sich die Vermutung, dass diese Steine im
Frontbereich der Gräber aufgesetzt wurden (und nicht wie es unserem
Gefühl entspräche am Ende).
Es werden zahlreiche Grabsteine auf Wegen gefunden, zum Teil nur
fingerbreit unter der Erdoberfläche. Viele liegen mit der Beschriftung nach
unten. Diese Beschriftungen sind deutlich besser erhalten als diejenigen, die
der Witterung ausgesetzt waren.
Es ist teilweise unsicher, ob die Grabsteine auf benachbarte Gräber
gehören, oder weggetragen wurden und dann liegengelassen wurden
(Materialbeschaffung für Hausbau). Wir legen diese Steine auf benachbarte
Gräber und richten sie nicht wieder auf, auch um deutlich zu machen, es ist
unklar, wohin sie gehören.
An mehreren Stellen wird sichtbar, dass es Gräber gibt, die von oben mit
Ziegelsteinen abgedeckt wurden. Auch diese Steine wurden offensichtlich
zum Hausbau benutzt. An diesem Vormittag bekommen wir die Information,
dass in den 50er Jahren tatsächlich der Friedhof als Quelle für Baumaterial
genutzt wurde.
Verschiedene Grabsteine liegen umgestürzt in offenen Gräbern. Auch hier
ist die Vermutung, dass Grabräuber am Werk waren und die Grabsteine
witterungsbedingt später in die Gräber gefallen sind. Zwei solcher Steine
werden geborgen.
In der Gruppe entsteht eine Diskussion, ob diese Grabsteine wie
vorgefunden liegen bleiben sollen, oder aus den offenen Gräbern geholt
werden und daneben oder darauf gelegt werden sollen. Ein
Wiederaufrichten und Einbetonnieren erscheint uns aufgrund der
verbliebenen Zeit und der Menge der Steine nicht möglich.
Eine neue Arbeitsgruppe beginnt mit der Dokumentation. Der Friedhof wird
von verschiedenen Punkten vermessen, die Hauptwege in eine Karte
eingetragen und die ersten 47 Gräber am Hauptweg zum Hügel werden
fotographisch festgehalten.
Wie auch am Vortag sehen wir zwei Beerensucherinnen in unmittelbarer
Nähe des Friedhofs. Damit dürfte klar sein, dass deutlich mehr Menschen als
die bisher geschätzten fünf bis zehn Einwohner von Plavinas von der
Existenz des Friedhofs wissen.
Eine kleine Gruppe besichtigt ausserhalb der Arbeiten noch einmal die
gesperrte Zone um das umgestürzte Grab. Nachdem ein weiterer Knochen
(Wirbel) gefunden wird, wird entschieden, dass der Bereich des
Knochenfundes unberührt bleibt. Ob die umgestürzte Grabeinfassung
aufgerichtet wird oder so liegen bleibt, wird nicht entschieden, weil es für
beides viele gute Gründe gibt. Auf alle Fälle müsste der mit der Einfassung
verbundene Grabstein soweit freigelegt werden, dass die Schrift vollständig
erkennbar ist.

Einige Bilder der Arbeit:

 

12.8.
arbeitsfreier Tag mit Besuch im jüdischen Museum in Riga, Gespräch mit
Herrn Vestermanis, Herrn Meller und Frau Dr. Waldstein.
Die vorhandenen Probleme werden erörtert. Es ist in Riga bekannt, dass der
Friedhof geschändet wurde. Wenn umgefallene Grabsteine aufgerichtet
werden, und eine Zuordnung zu einem bestimmten Grab möglich ist, sollte
das in Richtung Osten geschehen. Die von uns bisher verfolgte Lösung, die
Grabsteine zu legen, wird als Möglichkeit gesehen, die Gewalt gegen den
Friedhof deutlich zu machen und gleichzeitig Ordnung in den Friedhof zu
bringen.
Was den herausgebrochenen Grabstein angeht, sind Herr Vestermanis und
Frau Dr. Waldstein der Meinung, dass der Grabstein an dieser
herausgehobenen Stelle aus den oben schon genannten Gründen so
liegen bleiben sollte, Herr Meller ist für Aufrichten. Damit ist unsere
Entscheidung gefallen, diesen Stein exemplarisch so liegen zu lassen (damit
nicht verwischt wird, was mit diesem Friedhof geschehen ist). Es muss dann
überlegt werden, die zugedeckte Aufschrift lesbar zu machen.
Für die gefundenen Knochen wird, wenn eine Zuordnung möglich ist, eine
Bestattung im entsprechenden Grab für richtig gehalten (so sind wir auch
verfahren). Die Vermutung, dass die Leiche wahrscheinlich aus dem
aufgebrochenen Grab stammt, wird geteilt. Tiere werden ein übriges zur
Verteilung der Knochen getan haben. Es wird vereinbart, dass der Fundort
der Knochen mit Sand abgedeckt wird.
Herr Meller meint, dass es durchaus möglich ist, dass weitere Steine mit
deutscher Inschrift auftauchen. Für die falsche Richtung gibt es keine
Erklärung.
Die beiden Grabaufsätze gehören, wie wir vermutet haben, auf den Beginn
des Grabes. Beerdigt wurde mit den Füssen in Richtung Osten.
Die Beobachtung, dass es Grabfelder für Frauen und für Männer gibt, wurde
bestätigt.
Herr Meller spricht die Zuwegung an. Er spricht sich dafür aus, dass das
zweite Schlammloch begehbar gemacht wird, das erste aber bleibt, um zu
verhindern, dass Autos zum Friedhof fahren, um den Friedhof abzubauen
oder anderweitig zu schänden. Dazu haben wir abends mit Dr. Silins
überlegt, ob wir nur eine Fussgängerspur auf dem Weg trockenlegen.
In der Synagoge kam heraus, dass der Friedhof Anfang der sechziger
Jahre von einem Amerikaner gefunden wurde.
Ob ein Kaddisch bei der Einweihung gesprochen wird, ist unklar, weil
wahrscheinlich keine zehn jüdischen Männer zusammenkommen.

13.8.
Heute werden Gräber und Wege im Sektor 1.1 und 1.2 gemacht. Die Gräber
im Sektor 2.2, aus denen vorgestern die Grabsteine geborgen wurden,
werden verfüllt. Die Grabsteine werden auf den zugehörigen Gräbern
abgelegt. In einem Fall wird aufgrund der Bodenbeschaffenheit eine
Schräglage vorgesehen. Leider konnten die Grabsteine nicht gewogen
werden (geschätzt 600 bis 800 kg).
Viele der liegenden Grabsteine werden vorsichtig gereinigt. Dabei kommen
rote und blaue Einfassungen der Beschriftung zutage. Die polierten Steine
lassen sich besser fotographisch erfassen, wenn die polierte Fläche
angefeuchtet wird.
Im Sektor 2.2 wird versucht die an verschiedenen Stellen gefundenen
Bruchstücke zusammenzufügen. In einigen Fällen gelingt es, aber es scheint
auch so, dass viele Bruchstücke verloren oder noch irgendwo verborgen
sind. Da die Bruchstücke in keinem Fall nebeneinander lagen, ist eine
Zuordnung zu einem Grab unmöglich.
Im Sektor 2.3 werden weitere drei abgeschrägte Grabsteine gefunden.
Diese Steine sind ursprünglich, anders als an den bisherigen Fundorten, vor
den Grabeinfassungen plaziert gewesen. Alle diese Steine sind in der
Beschriftung sehr gut erhalten. Die Beschriftung selber weicht im Text von
den bisherigen ab. In diesem Sektor werden neue Grabsteine entdeckt.
Die wegen der Knochenfunde gesperrte Fläche wird mit 5cm Sand
abgedeckt. Beim Einharken kommen weitere Knochen (Wirbel) zum
Vorschein, die im dazugehörigen umgestürzten Grab bestattet werden.
Möglicherweise liegt noch deutlich mehr unter der abgedeckten Fläche. Vom
umgestürzten Grab wird der Grabstein sichtbar gemacht. Die Sandfläche
wird mit Moos eingefasst.
Etwa 30 weitere Grabsteine werden dokumentiert. An den ersten Tagen ist
leider teilweise vergessen worden, die neugefundenen Steine zunächst im
ursprünglichen Zustand zu dokumentieren. Das wird bei den heutigen
Funden gemacht. Es wird klar, dass eigentlich hinter jedem Spaten und jeder
Harke eine Kamera und ein Berichterstatter stehen müsste. Das ist von uns
nicht zu leisten.
Bei der Kartographierung erweist sich als schwierig, dass verschiedene
Wege sich auf halber Strecke teilen oder aufhören. Es muss ein anderes
System der Zählung der Gräber gefunden werden.
Auch heute kommen Beerensammler in die Nähe des Friedhofs.

14.8.
Sonntag, arbeitsfrei,

15.8.
Heute werden die letzten Grabsteine aus eingefallenen Gräbern geborgen
und auf den Gräbern nach Verfüllung abgelegt. Dabei fallen die beiden
gekreuzt liegenden Steine auf, weil die eine differierende Aufschrift haben,
statt „pe-nun“ (wie auf allen anderen Grabsteinen) steht oben auf dem Kopf
„Zion“.
Im Sektor 2.3 werden bei der Bergung eines Steins einige Knochen
(Oberschenkel und ein weiterer Knochen) gefunden, die nach der Bergung
in dem entsprechenden Grab bestattet werden. Der geborgene Stein weist
als bisher einziger eine gelbe Umrandung auf.
Insgesamt werden weniger Steine als an den Vortagen gefunden. Somit
sind vor allem die Sektoren 1.3 und 3.1 mit nur sehr wenigen Steinen
versehen. Die Ursache könnte darin liegen, dass von beiden Sektoren ein
einfacher Abtransport der Steine möglich war.
Es tauchen noch an verschiedenen Stellen einige kleinere Bruchstücke auf,
die aber aufgrund des Materials und der Beschriftung zusammengehören.
Zum Teil passen die Bruchkanten, oft fehlen aber Stücke.
Nachdem wir einen guten Überblick haben, müssen wir davon ausgehen,
dass vielleicht die Hälfte der Grabsteine ohne Fundament stehen, bzw.
gestanden haben. Um zu testen, wie lange diese Steine ohne Fundament
stehen können, richten wir einen Stein im Sektor 1.2 probeweise auf.
Im Sektor 3.2 liegt ein Fundament (sicher nicht der Ursprungsort), aus dem
ein etwa 3cm dickes und 8 cm langes Eisenrohr aufragt. Es war
offensichtlich die Verbindung zwischen Stein und Fundament. Im Sektor 2.3
wird ein umgefallener Stein gefunden, der die entsprechende Bohrung hat.
Nach kurzem Graben finden wird das entsprechende Fundament mit
Eisenrohr. Beim Aufrichten rutscht der Stein in das Eisenrohr und bleibt
sicher stehen.
Zwischen Sektor 1.2 und 2.2 wird ein Brecheisen gefunden.
Im übrigen werden heute Wege und Grababgrenzungen im Sektor 1.2 und
3.1 gemacht.
Nachmittags treffen wir Herrn Viktors Deliks (geb. 1932). Er lebt seit seiner
Geburt in Gostini und hat die Ereignisse im Jahr 1941 als Kind erlebt. Er gibt
an, viele jüdische Freunde gehabt zu haben.
Er zeigt uns die Plätze, an denen die beiden Synagogen gestanden haben,
die in der Fabrikas iela (an der Aiviekste) war aus Holz, die in der Lika iela
aus Stein. Beide wurden 1941 angezündet und abgerissen. Der Keller der
Steinsynagoge diente den Kindern noch lange als Spielplatz.
In der Daugava iela gab es eine jüdische Schule, in der Fabrikas iela gab es
an der Ecke zur Ugundzeseju iela ein Rabbinerseminar (einer der dort
ausgebildeten Rabbiner lebt noch, allerdings nicht in Plavinas).
Es soll etwa 850 jüdische Einwohner gegeben haben (die Zahl liegt über
der, mit der Yad Vashem rechnet). Vielleicht 140 Einwohner haben vor
Beginn der Deportation Gostini in Richtung Russland verlassen. Mit Beginn
der Verfolgung wurde für 14 Tage ein Ghetto zwischen Ugundzeseju iela
und der Aiviekste eingerichtet. Dieses Ghetto wurde von wenigen Polizisten
aus Gostini bewacht. Es wäre nicht schwierig gewesen, von dort zu fliehen.
Nach 14 Tagen wurden etwa 700 Juden nach Krustpils (ca. 7 km) zur
Erschiessung gebracht. Die vierzehn Tage werfen die Frage auf, ob diese
Zeit abgewartet wurde, welche Befehle aus Riga kommen, nachdem die
Errichtung des Ghettos gemeldet wurde.
Die dreissig Kräftigsten mussten Gruben ausheben. Die Erschiessung durch
Letten dauerte nur einen Tag. Er berichtet, dass an die beteiligten Polizisten
grosse Mengen an Wodka ausgegeben wurden und die Polizisten
volltrunken zurückkamen.
Auf Nachfrage gibt Herr Deliks an, dass er deutsche Wehrmacht oder SS in
Gostini nur wenige Tage gesehen hat und diese mit Reparaturarbeiten an
zwei zerstörten Brücken beschäftig gewesen seien.
Wenn die Ermordung zwar auf deutschen Befehl aber durch Letten
stattgefunden hat, erklärt sich, warum dieses bisher kein Thema in Plavinas
war.
Zehn bis fünfzehn Kinder, die ausserhalb gespielt bzw. Tiere gehütet hatten,
wurden hinterher in der Nähe des Friedhofs erschossen. Ob diese Kinder
auf dem Friedhof in dem Massengrab verscharrt wurden, weiss er nicht.
Neben dem Friedhof soll es ein Haus gegeben haben, in dem ein Lette
wohnte, der als Friedhofswärter/gärtner gearbeitet hat.
Die Aussage in der Zeitung „Staburags“ vom 13.8.2005, dass die Gräber in
den siebziger Jahren aufgebrochen und Leichen gefleddert wurden,
korrigiert er. Das sei vorher gewesen, habe aber über einen Zeitraum von
gut 10 Jahren stattgefunden.
Von den 140 Juden, die nach Russland geflohen waren, kehrten einige
wenige nach dem Krieg nach Gostini zurück. Sie bekamen in der Regel
ihren Besitz ohne Schwierigkeiten zurück. In dieser Zeit wurde der Friedhof
wieder benutzt. Die letzte Beerdigung fand 1949 statt (eine Frau). Die noch
lebenden Zurückgekehrten sind alle ausgewandert (Israel, Kanada, USA).

16.8.
Gestern wurde nach Abschluss der Arbeiten der Gedenkstein gebracht und
im Sektor 2.1 aufgestellt. Ausserdem wurde Sand für die Zuwegung
angeliefert.
Die Zuwegung wird von einer grösseren Gruppe befestigt und planiert. Für
den Zugang an der Strasse wird ein Hinweisschild gebaut, dass morgen
aufgestellt werden soll.
Inzwischen sind 260 Grabsteine sichtbar. Heute wurde kein weiterer
gefunden. Die letzten gestern geborgenen wurden auf die entsprechenden
Gräber verbracht.
Beim ersten Lesen der Grabsteine fällt auf, dass es noch andere Aufschriften
als die bisher gefundenen gibt. Im Sektor 1.2 gibt es einen Grabstein, auf
dem steht, dass dort eine „Jungfrau“ begraben liegt.
Es werden im übrigen Wege und Grabumrandungen im Sektor 1.2, 3.1 und
3.2 gemacht und erste Aufräumarbeiten beginnen.
Da wir weiteren Sand gebrauchen, graben wir südlich des Friedhofs eine
Sandgrube. Damit dürfte die Herkunft der beiden grabähnlichen
Absenkungen südlich des Friedhofs geklärt sein. Auch in früheren Zeiten hat
man so Sand für den Friedhof gewonnen.
Eine Pilzsucherin kommt mit uns ins Gespräch. Sie weiss, dass vor vier oder
fünf Jahren drei Männer den Friedhof fotographiert haben (Herr Meller?).
Sie behauptet weitere Informationen über den Friedhof zu haben, die sie
aber nur gegen Bargeld preisgeben will. Wir glauben nicht, dass sie wirklich
etwas weiss, was über das Wissen von Herrn Deliks hinausgeht.
Für die Abschlussfeier scheint es uns wichtig, dass Herr Deliks als
Augenzeuge einen Redebeitrag bekommt. Das wird auch so mit dem
Bürgermeister besprochen.
Die Flaggenmasten für die Abschlussfeier werden rechts neben dem
Gedenkstein gesetzt. Es wird lange darüber diskutiert, in welcher
Reihenfolge die Flaggen aufgehängt werden sollen. Eine leichte Mehrheit
sagt, die israelische in der Mitte, links und rechts davon Lettland und
Deutschland, aussen Niederlande und Österreich.

17.8.
Gestern nachmittag wurde die Gedenktafel auf dem Stein angebracht.
Heute ist der Schlussspurt. Das vorläufige Hinweisschild an der Strasse wird
aufgestellt. Es werden vor allem Wege und Grabumrandungen in den
Sektoren 1.1, 1.3, 2.1, 2.3, 3.2 und 3.3 gemacht und das Unkraut abgefahren.
Wir haben ständig fünf Schubkarren im Einsatz.
Auch im Sektor 2.3 gibt es einen Grabstein, der mit einer grosskalibrigen
Waffe beschossen wurde.
Einige der offenen Gräber im Sektor 2.3 werden verfüllt. Wir wollen aber
auch einige Gräber so offen belassen, um die Grabräuberei zu
dokumentieren.
Die meisten aufgebrochenen Gräber finden sich in den hinteren Sektoren
(besonders viele in 2.3). Dieser Teil ist vom vorderen Waldweg am
wenigsten einsehbar.
Im Sektor 1.2 gibt es einen weiteren Knochenfund (Hüfte) mitten auf einem
Weg. Da völlig unklar ist, wohin der Knochen gehört (möglicherweise ist er
von Tieren verschleppt worden), wird er in einem benachbarten Grab
bestattet.
Die restlich Fotos von Grabsteinen werden gemacht. Wir zählen jetzt über
270 Grabsteine.
Kurz vor Arbeitsende noch einmal zwei Steine mittlerer Grösse (im Sektor
2.2 und 2.3) gefunden, die unter Wegflächen verborgen waren. Das bringt
uns unter enormen Zeitdruck.
Das gesamte Gelände wird gereinigt. Die letzten Flatterbänder werden
entfernt. Morgen müssen nur noch die Flaggenmasten aufgestellt und die
Flaggen befestigt werden.
Es wird uns klar, dass wir in der Bevölkerung von Plavinas eine heftige
Diskussion über den Friedhof (und damit hoffentlich auch über die
Geschichte) und den Einsatz der Deutschen angestossen haben. Viele
haben in der Zeitung davon gelesen, oder die Gruppe auf dem Weg zum
Friedhof gesehen. Wir würden uns freuen, wenn wir über den Fortgang
etwas erfahren würden.
Für einen weiteren Einsatz im nächsten Jahr verbleiben noch zahlreiche
Gräber in den Sektoren 1.3, 2.3 und 3.3. Es ist anzunehmen, dass dort noch
weitere Steine geborgen werden. Wahrscheinlich muss auch erst wieder
unerwünschte Vegetation entfernt werden.
Es muss geprüft werden, ob die versuchsweise aufgestellten Steine noch
stehen. Angesichts der grossen Menge der geborgenen Steine, muss
überlegt werden, ob nicht ein Teil davon dann aufgestellt wird.
Da nicht alle Fotos auf dem grossen Bildschirm gelungen sind (es gibt
Fotos, die nicht optimal ausgeleuchtet sind), sollte die Foto-Dokumentation
im nächsten Jahr verbessert werden. Gleichzeitig kann dann der Lageplan
mit Hilfe der Fotos auf Fehler nachgesehen werden.
Wenn die Grabsteine übersetzt sind, könnte vielleicht etwas über Familien in
Gostini ermittelt werden und mit Registern in Riga verglichen werden.
Vielleicht gibt es auch die Möglichkeit, dass deutsch-lettische Gruppen in
Riga im Archiv den Schriftwechsel über die Deportation in Gostini zu
verfolgen.
Die Grabsteine sollten miteinander verglichen werden. Eine Vermutung ist,
dass es Formeln gibt, die zu bestimmten Zeiten in Gebrauch waren.
Vermutlich gibt es auch nur einmal vorkommende Beschriftungen („z.B. die
„Jungfrau“).
Eigentlich wäre es erforderlich, jetzt für einen gewissen Zeitraum täglich mit
Herrn Deliks im Gespräch zu bleiben. Der Eindruck ist, dass er anfängt sich
zu erinnern, seitdem er darüber spricht. Vielleicht kann er sich auch an
Familien und Namen erinnern.
Denkbar wäre schließlich noch, den Ort der Erschiessungen ausfindig zu
machen und dort etwas zu tun.
18.8.
Wir treffen uns vor der Einweihungsfeier mit Herrn Deliks, um zum
Erschiessungsort nach Krustpils zu fahren. Er bedauert, dass er vielleicht
nicht den Weg finden wird, weil er das letzte Mal vor dreissig Jahren dort
gewesen ist. Uns liegt aber auch daran, noch einmal mit ihm zu sprechen.
Herr Deliks zeigt uns noch in Gostini ein Haus, in dessen Keller sich ein
Jude vor der Deportation im Keller retten konnte. Er wurde danach von
einem Bekannten versteckt und hat sich vielleicht auch einige Zeit in einem
der beiden Holzhäuschen (von denen wir allerdings keine Spuren mehr
gefunden haben) auf dem Friedhof verborgen.
Nach 1949 haben keine Beerdigungen mehr auf dem Friedhof
stattgefunden. Er weiss von drei Beerdigungen danach auf dem jüdischen
Friedhof in Krustpils.
Für die Beerdigungen wurde kein Sarg wie heute verwandt, sondern
einfach Holzkisten. Es war üblich, dass eine Klagefrau das Weinen am Grab
übernahm.
Zum Erschiessungsplatz geht es von der Strasse nach Jekabpils den
zweiten Abzweig nach Viskukrog. Es geht über zwei Bahngleise. Der Platz
liegt heute in einem Wald links vor der zweiten T-Kreuzung (erste links
abbiegen). An der zweiten Kreuzung steht rechts ein Gedenkstein. Der Ort
nennt sich „kakisu“ (Kätzchenmord).
Der Abtransport wurde mit russischen Lastwagen durchgeführt, die die
Russen bei ihrem plötzlichen Rückzug vor den Deutschen hatten stehen
lassen.
Für das Erschiessungskommando konnte man sich freiwillig melden und es
gab auch Geld dafür. Auch der Direktor der Schule hat daran teilgenommen.
Es wird gesagt, dass er selber 30 Juden erschossen hat, darunter auch der
Rabbi. Herr Deliks meint, dass der Direktor deshalb später selber
erschossen wurde.
Herr Deliks war Buchhalter, er hat nebenher aber auch in dieser Gegend in
der Landwirtschaft gearbeitet. In dieser Zeit hat er hier mit den anderen
Arbeitern viele Kugeln gefunden, einige auch in Bäumen.
Auf Nachfrage erzählt er, dass die Deutschen im Juli oder wahrscheinlicher
im August gekommen und für zwei Monate geblieben sind. Sie waren
allerdings nur mit der Rekonstruktion von zwei Brücken beschäftigt.
Er glaubt, dass nur die Älteren in Gostini ein Interesse an einer Aufarbeitung
dieser Geschichte hätte, die Jüngeren weniger. Er selber findet unsere Arbeit
sehr gut und bedauert, dass niemand in Gostini von sich aus auf diese Idee
gekommen ist (das wird er auch später bei der Einweihung wiederholen).
Er selber hat nur das mit eigenen Augen gesehen, was in Gostini passiert ist,
das übrige weiss er nur vom Erzählen. Ausser ihm gibt es nur noch zwei
Sinti-Frauen, aber die hätten weiter weg gewohnt und nicht so viel gesehen.
Über die Umstände des Abtransports erzählt er, dass in Gostini verbreitet
wurde, die Juden bekämen anderswo Arbeit.
Von seiner Oma hat er gehört, dass einer vom Erschiessungskommando
gesagt habe, ihm sei es egal ob er ein Schwein oder einen Menschen
erschösse. Deliks habe seine Oma gefragt, ob sie keine Angst vor solchen
Menschen habe. Seine Oma habe gesagt, das seien doch gute Nachbarn
und sie hätte keine Angst. Daran sei sicher richtig, dass man friedlich und gut
miteinander gelebt habe. Es habe keine Schlägereien oder dergleichen
gegeben.
Dann erinnerte er sich, dass drei Juden versuchten, sich der Deportation zu
entziehen. Sie wurden aber gefasst und wenig später auch auf dem
Erschiessungsplatz erschossen. Alle Juden aus Gostini seien in den Gruben
begraben worden.
Später seien auch Juden nach der Erschiessung im Sumpf daneben (vor
Kopf der T-Kreuzungt) versenkt worden (mit später meint er wohl 1942
Juden aus dem Rigaer Ghetto. Zu diesem Zeitpunkt Juden, die aus
Mitteleuropa dorthin deportiert waren). Schon früher hatte Dr. Silins erklärt
(er war 1956 an der Bergung der Leichen aus dem Sumpf beteiligt), dass
diese Juden mitteleuropäische Kleidung trugen. Herr Meller bestätigt bei der
Einweihung, dass dies Juden aus den Niederlanden waren. Die
geborgenen Opfer wurden auf verschiedenen Friedhöfen der Umgebung
bestattet.
Zu den Einschüssen auf den Grabsteinen befragt, sagt Herr Deliks, dass das
Vandalismus nach dem Krieg gewesen sei. Er wüsste nicht, dass um den
Friedhof nennenswerte Kampfhandlungen waren (es gibt allerdings ein paar
merkwürdige Trichter im Wald, die durchaus von Explosionen herrühren
könnten).
Die Juden an der Hauptstrasse (in jedem Haus war ein Geschäft), galten als
reich, ebenso der Besitzer der Lederfabrik (zwischen Holzsynagoge und
Aiviekste), Solomon Vesterman. Die Juden in den Nebenstrassen seien arm
gewesen.
Auf weitere Nachfragen nach Vorgängen, die er uns schon beim ersten
Besuch erzählt hat, ergänzt er. Es scheint nicht so zu sein, dass er ein Bild
aus seiner Vorstellung abruft, dass er sich jahrelang eingeprägt hat,
sonmdern dass er sich tatsächlich weiter erinnert.
Beim dritten Treffen mit ihm auf der Einweihungsfeier erinnert er sich, dass
um den Friedhof ein Drahtzaun war. Auf uns wirkt es so, als sei Herr Deliks
sehr erleichtert, dass endlich über diesen Teil seiner Geschichte geredet
werden kann. Es ist zu hoffen, dass dieses Gespräch unter den Menschen
in Plavinas fortgeführt werden kann und fragt: warum haben wir nicht schon
längst etwas getan?
Herr Meller erklärt auf der Feier, dass die Holzhäuschen in der Mitte
möglicherweise für Adlige gewesen seien oder für den Rabbiner Friedman,
der die Gemeinde 40 Jahre geleitet hat.
Er erzählt ausserdem, dass die Lederfabrik vor allem für Schuhe und
Ledergürtel bekannt war.
In Gostini habe es übrigens drei Synagogen gegeben, aber den Standort
der dritten wisse er nicht. Diese drei Synagogen gehörten verschiedenen
Richtungen an.
Im Museum gibt es Listen mit den Namen von 200 Ermordeten (da ist die
Liste von Yad Vashem länger, aber sie umfasst auch Menschen, die
irgendwann in Gostini gelebt haben und später umgebracht wurden).
Die Einweihungsfeier wird von Mitgliedern des Stadtrates, der Direktorin des
Gymnasiums, Mitgliedern der jüdischen Gemeinde in Riga, Vertretern der
Botschaften der Niederlande und Deutschlands und einigen Bürgern von
Plavinas besucht.
Der Kantor aus Riga spricht ein Gebet. Ein Kaddisch kann nur stumm
gelesen werden, da keine zehn erwachsene jüdische Männer anwesend
sind.
Sicher ein grosser Ausdruck von Hochachtung war das Schlusswort von
Herrn Meller, er habe noch 60 weitere Friedhöfe in Lettland.
Nach der Feier führen Mitglieder des Teams die Gäste über den Friedhof
und erläutern die einzelnen Massnahmen. Insbesondere die Mitglieder der
jüdischen Gemeinde (die den Friedhof ja kannten), sind überrascht über den
Umfang der Arbeiten und die geleistete Qualität. Mehrere Stellen bitten um
Übersendung der Dokumentation.
Bei diesem Rundgang bestätigt Herr Meller, dass das von uns vermutete
Massengrab das Kindergrab sein muss. Er zählt etwas ausführlicher die
gleiche Geschichte, die uns Herr Deliks über die Kinder schon erzählt hat.

Einige Bilder zur Einweihung:

Teilnehmer:
1. Klaus-Peter Rex
2. Reda El Scherif
3. Magdalena Birkenholz
4. Alexandra Budahn
5. Darius Dreyer
6. Anika Göttsche
7. Jens Kussauer
8. Jelena Okunnek
9. Mila Paul
10. Franziska Schneider
11. Nils Weber
12. Matthias Wegener
13. Katrin Wernitz
14. Andreas Schulz
15. Wanda Sebastian
16. Reimund Jonen
17. Harm Schoonekamp (NL)
18. Mirian van der Velden (NL)
19. Alois Groisböck (AU)
20. Andreas Aichner (AU)
21. Dace Klavina (LV)
22. Lasma Zeipe (LV)
23. Liga Spule (LV)
24. Toms Upenieks (LV)
25. Arturs Rudzitis (LV)